18.11.2022 - Seelsorge-Kolumne in der tz

 
Der tägliche tz-Ratgeber
heute: Glaubensfragen


Das Leben gleicht einem Balanceakt

 

Das Leben – ein besonderer Drahtseilakt? Ist das Leben eher eine „Gratwanderung“, oder gar ein „Ritt auf der Rasierklinge“? Die Kunst des „Seiltanzes“ ist uralt, er ist zum Symbol geworden für unser Leben als Balanceakt zwischen Erde und Himmel. Eine Symbolgeschichte spricht vom Vertrauen ins Ungewisse.

Hierzu Gedanken von Pfarrer Johannes Habdank

 

 
 


Stellen wir uns vor, dass wir auf einem Marktplatz stehen. Viele Menschen sind versammelt. Sie stehen dicht gedrängt, und rundherum stehen hohe Häuser. Mitten über den Marktplatz ist ein Hochseil gespannt von einem Haus zu dem gegenüberliegenden Haus. Alle Menschen schauen zu dem Hochseil hinauf. Auf dem Hochseil balanciert einer. Er balanciert auf dem dünnen Seil quer über den Platz und über die Köpfe der Menschen hinweg. Die Menschen staunen, und sie klatschen – aber es kommt noch toller: Der Hochseilkünstler nimmt sich eine Schubkarre hinauf aufs Seil.Es wird totenstill auf dem Marktplatz. Er setzt die Karre mit dem Rad auf das Seil und macht einen ersten Schritt. Das Seil schwankt, aber Karre und Künstler setzen ihren Weg fort – von einem Ende des Seils über die Köpfe der Menschen hinweg quer über den Marktplatz. Alle staunen und klatschen noch mehr, und sie rufen: Noch mal! Noch mal! Der Künstler nickt und schiebt die Karre wieder zurück. Als er das Ende des Seils erreicht, sind die Erleichterung und der Jubel wieder groß, und wieder sind da die Rufe: Noch mal! Noch mal! Und wieder nickt der Künstler auf dem Seil, aber dann ruft er zurück: Wer von euch setzt sich in meine Schubkarre? Da ist es wieder totenstill auf dem Platz. Und wieder hört man die Frage: Wer von euch kommt zu mir und setzt sich in meine Schubkarre? Plötzlich eine Antwort: Ich! Ein kleiner Junge hat das gesagt, und wenig später setzt er sich in die Schubkarre auf dem Hochseil. Wieder beginnt der Balanceakt über den Menschen, und wieder ist es totenstill. Auch als der Künstler und die Schubkarre und der Junge das Seilende erreichen. Als der Junge aussteigt, ertönen laute Rufe: Junge, wie konntest du das tun? Was glaubst du denn, wie gefährlich das ist? Da lächelt er und antwortet: Aber der Künstler ist doch mein Vater.“ (Quelle: unbekannt)
 
Soweit die Gleichnisgeschichte vom göttlichen Kunststück über unseren Köpfen, von jenem Künstler, der alles zu können scheint, dem man jedenfalls unbedingt vertrauen darf. Versteht man es so, dann stünde der Seiltänzer für Gott. Oder es ist eine Weisheit über die Menschen, die selber nicht zu tun wagen, was sie von anderen erwarten. Oder es istie Geschichte von großem Gottvertrauen, das um das Risiko des Lebens weiß und den Tod kennt, aber nicht fürchtet. Haben Sie auch so grenzenloses Vertrauen ins Ungewisse hinein!

DER TÄGLICHE tz-RATGEBER heute: Glaubensfragen (Münchner Merkur/tz, 18.11.2022)