16.08.2020 - 10. Sonntag nach Trinitatis

Pfarrer Johannes Habdank
Bildrechte Evang.-Luth. Kirchengem. Berg

„Letzter Blick: Mose am Nebo“ (Dtn 32.34)

Gottesdienst im Garten des Katharina von Bora-Hauses mit
Pfarrer Johannes Habdank in der Sommer-Predigtreihe 2020 "Berg-Geschichten"

Zeitgleich mit dem Live-Gottesdienst gab es für im Internet auch einen virtuellen Gottesdienst, vorab aufgenommen im Katharina von Bora-Haus.

Nachstehend Lesung und Predigt zum Nachlesen und anschließend das Video vom virtuellen Gottesdienst.

 

Gebet:
Alle unsere Wege, Herr, führen in deine Hände. Lass deine Hände offen, Herr, bis wir uns finden. Komm uns entgegen und achte auf uns – wir kommen auf Umwegen. Amen.

Lesung der Berggeschichte aus 5. Mose 32 und 34 (in Auswahl)
Und der Herr redete mit Mose am selben Tage und sprach: Geh auf den Berg Nebo, der da liegt im Lande Moab gegenüber Jericho, und schaue das Land Kanaan, das ich den Israeliten zum Eigentum geben werde. Dann stirb auf dem Berge, auf den du hinaufgestiegen bist, und lass dich zu deinem Volk versammeln, wie dein Bruder Aaron starb auf dem Berge Hor und zu seinem Volk versammelt wurde; denn ihr habt euch an mir versündigt unter den Israeliten bei dem Haderwasser zu Kadesch in der Wüste Zin, weil ihr mich nicht heiligtet inmitten der Israeliten. Denn du sollst das Land vor dir sehen, das ich den Israeliten gebe, aber du sollst nicht hineinkommen. - Und Mose stieg aus den Steppen Moabs auf den Berg Nebo gegenüber Jericho. Und der Herr zeigte ihm das ganze Land. Und der Herr sprach zu ihm: Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: Ich will es deinen Nachkommen geben. Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst nicht hinübergehen. So starb Mose, der Knecht des Herrn, daselbst im Lande Moab nach dem Wort des Herrn. Und er begrub ihn im Tal, im Lande Moab. Und niemand hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag. Und Mose war hundertzwanzig Jahre alt, als er starb. Seine Augen waren nicht schwach geworden, und seine Kraft war nicht verfallen. Und die Israeliten beweinten Mose in den Steppen Moabs dreißig Tage, bis die Zeit des Weinens und Klagens über Mose vollendet war. Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der Herr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht, mit all den Zeichen und Wundern, mit denen der Herr ihn gesandt hatte, dass er sie täte in Ägyptenland am Pharao und an allen seinen Großen und an seinem ganzen Lande, und mit all der mächtigen Kraft und den großen Schreckenstaten, die Mose vollbrachte vor den Augen von ganz Israel.

Predigt:
Liebe Gemeinde, Mitte der 1980er Jahre habe ich in Jerusalem auf dem Berg Zion an einem ökumenischen Studienjahr teilgenommen. Zu den Studienfächern gehörten unter anderem Landeskunde und Archäologie, auch eine 10tägige Sinai-Tour, und viele andere Exkursionen waren dabei. Sagenhaft gut war für mich, dass ich direkt neben der Dormitio im Studienhaus ein Zimmer zugelost bekam, das im obersten Stock lag mit Blick über die Wüste Juda, bei guter Sicht bis nach Jordanien, und da konnte man den Berg Nebo erspähen. Eine privilegierte Lage: Blick vom Berg Zion zum Berg Nebo! (Foto)
Und umgekehrt vom Nebo ins verheißene Land: das wäre dann der Blick, der Mose an seinem Lebensende gerade noch vergönnt war. Er, der in Ägypten geboren war und einen ägyptischen Namen trug („der aus dem Wasser gezogene“, „der Sohn“), er, der in den fünf biblischen Büchern, die nach ihm benannt sind, als Gegenspieler von Ramses II. aufgebaut wird und durch sagenhafte Plagen, die das Land über-kommen, den König besiegt mit Gottes Hilfe; Mose, der einen Ägypter umbringt, weil der einen Hebräer erschlagen hatte; Mose, der an den Berg Horeb flieht, wo er bei einem Priester aus Midian Zuflucht findet und die Tochter Zippora ehelicht; Mose, der dort von Gott aus dem brennenden Dornbusch hört, er sei berufen, das geknechtete Volk aus Ägyptenland zu befreien, womit er sich erst überfordert sieht, was aber in einer dramatischen Aktion gelingt: Rettung durchs Schilfmeer mit Gottes Hilfe. Dann 40 Jahre Wüstenwanderung unter schwierigsten Bedingungen, nur durch einige Wunder kann das immer wieder aufbegehrende Volk bei der Stange gehalten werden und überleben. Höhepunkt: Mose am Sinai, zehn Gebote, Tanz des abtrünnigen Volkes ums goldene Kalb. Das Volk murrt immer wieder und – Mose beschwichtigt zwar, aber scheint nicht genügend klar zu seinem Gott zu stehen: Ob es nun das widerspenstige Volk ist, das Mose zusammen mit seinem Bruder Aaron nicht ganz im Griff hat, oder immer wieder aufkommende Gotteszweifel des Mose selbst, bleibt offen, beide Gründe werden genannt dafür, dass Mose das verheißene Land zwar noch sehen darf, aber selbst nicht mehr betreten.

Mose muss sterben. Und zwar mit 120 Jahren. Warum mit 120? Weil es so in der Bibel steht. Und zwar im 1. Mose 6: Zuvor waren diverse mythische Gestalten wie Methusalem im „biblischen Alter“, wie wir deshalb sagen, von 969 Lebensjahren, Noah mit 950 Jahren, Adam mit 930, oder Henoch immerhin mit 365 Jahren gestorben: alles symbolische Zahlen, die schwer deutbar sind, aber die eine besonders hohe Gottverbundenheit und Anerkennung zum Ausdruck bringen, soweit wir wissen. Nun, wenn Menschen so alt werden können, dann steht für Gott auf dem Spiel – siehe die verbotenen Früchte des Baumes des Lebens in der Paradiesgeschichte –, dass die Menschen vielleicht auch ewig leben könnten. Also begrenzt Gott das menschliche Lebensalter auf 120: die sind Mose zugedacht, festgesetztes Höchstmaß.

Mose stirbt am Berg Nebo, heißt es. Wo ist das Grab dort? Keiner weiß es bis heute. Warum? Wie die Bibel so schön sagt: Gott selbst begrub ihn. Und niemand hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag - ein extremes Gegenmodell zu aller menschlicher Sepulkralkultur und zu allen Geschäftsideen für eine erfolgreiche Bestattungs- und Friedhofsindustrie.

Liebe Gemeinde, warum ich diese biblische Berggeschichte ausgewählt habe? Weil ein Mensch mit einer gigantischen Glaubens- und Lebensleistung seine Erfüllung, sein Lebensziel am Ende sehenden Auges nicht erreicht. Es bleibt für ihn unvollendet. Kurz vor dem Ziel, dem Einmarsch im gelobten Land, muss er sich - schleichen, am Nebo. Der letzte Wunsch bleibt unerfüllt. Ein letzter Blick aber wird ihm gewährt.

Das Lebenswerk des Mose bleibt unvollendet, bleibt Fragment. Das kennen wir Heutigen auch aus der Neuzeit: Wie viele große Lebenswerke oder Hauptwerke großer Komponisten sind unvollendet geblieben: Gut, bei Schuberts Symphonie in h-Moll, der sog. Unvollendeten, scheint sich immer mehr herauszustellen, dass er bewusst nur 2 von 4 Sätzen komponiert hat, weil für ihn die beiden ersten Sätze selbst eine vollendete Symphonie gewesen seien. Und außerdem lebte er immerhin noch weitere 6 Jahre.

Tatsächlich unvollendet, weil es ans Sterben ging, blieb Bruckners 9. Symphonie, die er „dem lieben Gott gewidmet“ wissen wollte. Oder das wohl berühmteste unvollendete Werk: von Mozart, das Requiem. Diese berühmte Totenmesse wurde in seinem Sinne von seinem Schüler Franz Xaver Süßmeier posthum vollendet.

Unvollendete Werke, liebe Gemeinde, sind auch viele Bauwerke lange gewesen: da müssen wir nicht gleich in die Gegenwart schauen, z.B. auf einen gewissen Flughafen. Aber denken Sie an viele gotische Kathedralen, Werke über viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte! Auch der Petersdom zu Rom, das Ulmer Münster von 1377 (Grundsteinlegung) bis 1890 (Turmfertigstellung): für viele Generationen unvollendete Werke! Oder die Sagrada Familia von Gaudi in Barcelona, 1882 begonnen, soll zu seinem 100. Todestag 2026 fertiggestellt werden – vielleicht können ja noch ein paar Baumanager aus Berlin beratend mitwirken …

Zurück zu Mose am Nebo! Mose stirbt zwar mit 120, aber nicht lebenssatt, gleichwohl keinesfalls gebrechlich oder lebensmüde! Es wird von ihm gesagt, dass sein Auge noch nicht getrübt war und seine Frische noch nicht geschwunden. Er erhält Aussicht über sein Lebensende hinaus, er darf schauen, was er die ganze lange Zeit geglaubt und wofür er gelebt hat.

Und damit zu uns Heutigen! Kennen wir so etwas? Wie gehen wir mit dem für uns Unvollendeten um, im bisher erfahrenen Leben und mit Blick auf das Ende des Lebens? Nicht erst dann! Wir haben in unserem Leben nicht alles zu Ende gebracht, vollendet, jedenfalls kenne ich bisher keinen, und werden es auch am Ende nicht können. Biografische Brüche, Trennungen, berufliche Umbrüche und Einbrüche, Neuorientierungen, die uns alte Ideale aufgeben ließen und neue finden, oder auch nicht, alte Wege verlassen und neue suchen und gehen. Das Leben irgendwie auf die Reihe, eine Reihe zu kriegen, trotz allen Murrens, Schwankens, Absinkens und wieder Hochkommens, geht das? Unvollendet, aber beendet sein lassen, was gut ging, was noch offen ist oder womöglich bleibend im Argen liegt. Bestimmte Dinge und Verhältnisse nicht mehr reparieren können, sondern offenlassen (müssen).

Ob Mose vorher wusste bzw. wie zeitnah er es erfahren hat, dass er am Nebo sein irdisches Ende finden werde? Wir wissen es nicht genau. Und entsprechend stellt sich für uns die Frage, ob diese Grenze, die unabänderlich ist, eher plötzlich und zeitnah sich zeigt oder wenigstens halbwegs absehbar ist oder sein wird. Was wäre uns lieber?

Und dann: was ist die Wirkung bei uns? Kann diese Grenze, die sich da unüberwindlich aufbaut, etwas Belastendes oder nicht auch etwas Entlastendes an sich haben, ja, vielleicht sogar etwas Befreiendes, wie ein Kollege meint: Man müsse nicht mehr verpassten Gelegenheiten nachlaufen. „Der große Moses, dieser charismatische Führer, er muss dies erkennen und akzeptieren.“

Mose war der Blick ins verheißene Land vergönnt. Und er kannte seinen Nachfolger, Josua, den er selbst noch dafür segnen konnte. Er konnte getröstet sterben, weil er wusste: das mir auferlegte Werk wird weitergeführt, in die Zukunft. Diese Gewissheit hat heute nicht jeder Familienunternehmer, der sein Werk an einen Nachfolger übergibt, er muss bei aller vermeintlichen Planbarkeit letztlich ins Ungewisse hinein vertrauen. So geht es aber auch jedem Menschen, der an seine Lebensgrenze gelangt, ob es ihm passt oder nicht. Mose hat es hingenommen, so auch wir?

Man muss vertrauen über diese Grenze hinaus, und, dass die Geschichte auch ohne mich weitergehen wird. Um schließlich getrost sagen zu können:

In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott.
Amen.

Gebet:
Unruhig ist unser Herz, o Gott, bis es Ruhe findet in dir. Wir wissen nicht, wann das sein wird, und wir wissen nicht wo und wie. Wir wissen nur zum Teil, was wir an begonnenen Geschichten bis dahin vollenden dürfen und welche wir endgültig offenlassen müssen. Und wir kennen auch die Lebensperspektiven nicht, die wir anderen aus unserem Leben hinterlassen werden, wie gut oder wie schlecht sie sind. Unser Leben wird unvollendet bleiben, für uns selbst und für andere.

Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir. Weil unser Leben unvollendet ist und unvollkommen. So ist es den Menschen vor uns gegangen, und so wird es denen gehen, die nach uns kommen. Und so ist unser Leben ein Empfangen und Gewinnen, und ein Verlieren und Weitergeben.

Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir. Sei uns gnädig, wenn es soweit ist, dass wir an unser Ende gelangen. Schenke uns die Aussicht auf ein entspanntes, entlastetes ewiges Leben bei dir.

Unser Leben ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Wir sehen jetzt in einem Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht.

Das wollen wir glauben, Herr, hilf unserem Unglauben.
Amen.

Virtueller Gottesdienst zum 10. Sonntag nach Trinitatis, 16. August 2020,
im Katharina von Bora-Haus, Berg
„Letzter Blick: Mose am Nebo“